Paare
Erschienen in: Helga Egner (Hg): "Leidenschaft und Rituale"
Was Leben gelingen läßt. Walter, 1997
Der Verlust der Rituale in der Liebe
Dr. Claudia Sies
Schiller sagte über Liebe und Leidenschaft: "Die Leidenschaft flieht, die Liebe muß
bleiben." Und so ist es mir wichtig, zu betonen, daß mein Thema "der Verlust der Rituale in der Liebe" heißt und nicht "der Verlust der Rituale der Leidenschaften". Denn ich will darstellen, wie Leidenschaften und Rituale aufs engste miteinanderverknüpft sind, während Liebe und Ritual eher im Widerspruch zueinander stehen. Das Fliehen der Leidenschaften können wir heute vielleicht ablesen an den Scheidungs- und Trennungsstatistiken, die u.a. zeigen, daß Liebe und Leidenschaft oft nicht zusammen auftreten, und wenn die Leidenschaft erloschen ist, bleibt oft von Liebe nichts mehr übrig. Der Wunsch, die Kraft der Liebe in den Beziehungen wirksam werden zu lassen, kommt in einer neuen Form der Liebe zum Ausdruck, zu der ich am Ende meiner Ausführungen kommen werde und die man heute die "reine Beziehung" nennt. Zunächst möchte ich Ihnen zwei Zitate von Niklas Luhmann vorstellen, in denen er über die Funktionen von Ritualen spricht, wie ich sie heute hier betrachten möchte: " Man kann Rituale begreifen unter dem Gesichtspunkt des Coupierens aller Ansätze für reflexive Kommunikation. Die Kommunikation wird als fixierter Ablauf versteift, und ihre Rigidität selbst tritt an die Stelle der Frage, warum dies so ist. Die Elemente des Prozesses und ihre Reihenfolge werden unauswechselbar festgelegt, Worte wie Dinge behandelt, die Gegenwart zählt und ist weder im Hinblick auf die Zukunft noch an Hand jeweils angefallener vergangener Erfahrungen korrigierbar. Das Risiko des Symbolgebrauchs wird so gering wie möglich gehalten. Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten. Aber sie erfüllen diese Funktion auch in angespannteren Situationen, wo dies nicht mehr selbstverständlich ist, sondern Interessen oder Zweifel oder Ängste kleingehalten werden müssen; sie setzen für problematischere Situationen artifiziellere Mittel ein. Verstöße gegen das Ritual erscheinen deshalb auch nicht als Merkwürdigkeit, als persönliche Marotte, als Scherz, sondern als gefährliche Fehler; und statt nun dann doch auf Reflexivität umzuschalten, unterdrückt man den Fehler. (vgl. Luhmann, 1987, S. 614) Und: " Ritualisierungen (...) übersetzen externe Ungewißheiten in einen internen Schematismus, der nur stattfinden oder nicht stattfinden, aber nicht variiert werden kann und dadurch die Fähigkeiten zur Täuschung, zur Lüge, zu abweichendem Verhalten neutralisiert. Ritualisierungen stellen geringe Ansprüche an die Komplexität des Systems. Sie scheinen daher als Behelf zu dienen, bis in der Form Dr. med. Claudia Sies Artikel zum Download von der Homepage von Organisation hinreichend komplexe Systeme entstehen, die funktionale Äquivalente für Unsicherheitsabsorption entwickeln können." (l.c., S. 253) Heute leben wir in einer starken Diskrepanz, da in unserer sozialen Umwelt an gewohnter Stelle immer mehr und immer schneller die Rituale wegfallen, während in der seelischen Entwicklung diese "funktionalen Äquivalente für Unsicherheitsabsorption", in unserer Sprache: "Selbstwahrnehmung", "Selbststeuerung", "Eigenverantwortung" und "Entscheidungsfähigkeit mit allen
Folgen und Risiken", und aus all dem resultierend "Beziehungsfähigkeit" noch längst nicht so entwickelt sind, daß sie uns in dem nun eröffneten Raum der Möglichkeiten wirklich zu einer Orientierung verhelfen könnten. In früheren Jahrhunderten da waren zwar einzelne, meist privilegierte Menschen in der Lage, in sonst für alle anderen Menschen festgelegten Situationen selbst Entscheidungen zu treffen, auch entgegen den Bräuchen und Ritualen, weil sie auch in der Lage und gewillt waren, alles, was das so nach sich zog, zu ertragen. Wobei manche Dramen der letzten Jahrhunderte vom Scheitern dieser Versuche handeln. Heute sind von diesem Zwang zu permanenter Entscheidung bis ins Kleinste alle
Menschen in unserer Gesellschaft erfaßt, denn so ritualisiert wie früher sind ungeheuer viele Situationen heute nicht mehr. Und während die Individuen die Liebe immer mehr selbst verantworten müssen, weil sie von der Gesellschaft immer weniger vorgeschrieben bekommen, erlangen
seelische Vorgänge immer mehr Wichtigkeit, Ansprüche und Macht über die Beziehungen zwischen den Menschen. Je stiller es aber außen um die Rituale wird, desto lärmender werden die inneren Ritualisierungen. Auf der Suche in Nachbarwissenschaften nach weiteren Unterstreichungen dieses Themas, fand ich bei Beck und Beck-Gernsheim dafür den Begriff "Demokratisierung von Individualisierungsprozessen". Zwei allgemeine Beispiele: Nehmen Sie das Problem des Aufstehens. Wieviele Menschen klagen darüber, daß sie nicht aus dem Bett kommen, wenn sie es selbst entscheiden müssen und das müssen sie heutzutage, z.B. bei flexibler Arbeitszeit, am Wochenende, im Urlaub - alles relativ junge Möglichkeiten. Statt dessen warten sie im Bett auf etwas von außen: auf etwas, für das es sich lohnt aufzustehen oder auf etwas, weswegen es jetzt sein muß. Leer bleibt die Stelle, wo ohne Argumente gespürt werden kann, daß es jetzt stimmen würde. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ein Spätaufsteher ein
mißratener Mensch, ein Faulpelz, jemand, dem man nicht trauen konnte oder jemand, der es nie zu etwas bringen würde - es sei denn, er war schon König. Heute hat sich sogar ein Club gebildet. Ein Club der Spätaufsteher, mit der wissenschaftlichen Untermauerung, daß "regelmäßiges Aufstehen erst am Nachmittag" an einem verschobenen Biorhythmus läge. So einfach ist es eben doch nicht, ohne äußere Regulierung selbst zu steuern oder ohne Argumente quer zu stehen, wenn die unbewußte Wertregulierung weiterhin auf Bravsein besteht und mit Angst vor Beschämung und Beschuldigung operiert, wenn man sich von diesen Werten zu weit entfernt. Oder nehmen Sie das Essen. Wann gegessen wird, wieviel, in welcher Reihenfolge, wo gegessen wird, in welcher Körperhaltung: im Sitzen, Stehen oder Liegen - oder ob man überhaupt heute essen will; bis ins Kleinste hinein war dies bis vor nicht allzulanger Zeit ritualisiert (immer vorausgesetzt, es war Essen vorhanden, wenn es knapp war, dann wurde noch mehr ritualisiert). Heute kann jedes Detail davon - und jede Reihenfolge - gewählt werden, bzw. muß es sogar, weil das Essen und die Eßgewohnheiten weitestgehend entritualisiert sind. Und wieviele Verstimmungen bereiten diese neuen Freiheiten, sowohl im Magen wie auch im seelischen Befinden, z.B. in der Paarbeziehung die Frage: wer kocht. Der französisch-ägyptische Dichter Jabes sagte einmal im Gespräch: "Gehen Sie in die ägyptische Wüste, die ist so leise, da wird es plötzlich ganz laut." Außen also, an der Stelle der Normen, Rituale und Regeln: Stille, wie in der Wüste und im Gefolge davon um so lauter anschwellende, innere Konflikte. Der Roman "Oblomow" von Gontscharow (1859) wäre allein, weil er die Trägheit des Dienstadels und der Gutsbesitzer schildert, die aus sich heraus nicht imstande sind, die sozialen Verhältnisse zu ändern sicher nicht so anhaltend im Interesse geblieben, sondern er ist auch heute noch vielen ein Begriff, weil er in diesen aufkommenden sozialen Umstellungen der äußeren Entritualisierungen eine Projektionsfigur liefert in einem Mann, der seine Freßsucht nicht steuern kann und dessen Zweifel und Wünsche, aus dem Bett aufzustehen über lange Seiten plastisch geschildert werden - viele können sich gerade heute gut mit ihm identifizieren. Er ist ein Mann, der trotz seiner depressiven Weigerung, sein Leben aktiv zu führen, von allen Menschen seiner Umgebung geliebt wird. Gontscharow läßt ihn über die Leidenschaften sagen: "Es kann mitunter vorkommen, daß der Mensch sich nicht beherrscht; irgendeine höllische Macht ergreift Besitz von einem. Finsternis überkommt das Herz, und Blitze schießen aus den Augen. Die Klarheit des Verstandes wird getrübt; die Wertschätzung der Keuschheit, der Unschuld - alles wird wie im Sturme hinweggefegt. Der Mensch hat sich selber nicht mehr in der Gewalt, die Leidenschaft haucht ihn an; er kann sich nicht mehr beherrschen - und alsdann tut sich unter seinen Füßen der Abgrund auf." "Du redest Dummheiten", sagte sie (Olga) sehr schnell und blickte dabei zur Seite. "Ich habe überhaupt noch nie Blitze in deinen Augen gesehen (...). Gewöhnlich siehst du mich so an, wie meine (...) Kinderfrau, die Kusminitscha.!" fügte sie lachend hinzu. (Gontscharow, 1981, S. 407). So kann er seine große Liebe nicht halten, da beide unter Leidenschaften jeweils etwas anderes verstehen: Er das unbeherrschte Hervorbrechen der Aggression und der Sexualität als Partialtriebe. Sie hat zwei Seelen in ihrer Brust: sie sehnt sich einerseits nach dem zentralen männlichen Begehren, andererseits projiziert sie dazu im Gegensatz den Blick der Kinderfrau mit ihrem treuherzigen Angebot von Geborgenheit und Versorgung auf Oblomow. Er findet schließlich sein Glück bei der unbeweglichen, trägen Agafia, mit der seine Rituale übereinstimmen und die ihn weit über seinen Tod hinaus lieben wird. Kommen wir zu den Beispielen Zusammenziehen, Heirat, erstes Kind. Noch bis vor einigen Jahrzehnten selbstverständlich genormt, geregelt, ritualisiert - sind diese Übergänge heute der Tummelplatz für den Ausbruch von Beziehungskrisen, Symptomen und neurotischen Entwicklungen. Die Selbstverständlichkeit ist verlorengegangen und damit auch die Entlastung durch Rituale. (vgl. Sies, 1991) Warum wir heiraten, ob wir mit dem Ehepartner oder mit einem anderen ein Kind haben wollen, ob wir zusammenziehen, unverheiratet oder verheiratet. Jeder Schritt muß dabei selbst entschieden werden, aus eigener seelischer Kompetenz heraus, gleichgültig, ob diese von früh an abtrainiert wurde. Wollen wir gesund bleiben, wäre es günstig, auf diese Freisetzung mit einer verstärkten und vermehrten Eigensteuerung während des gesamten Lebenslaufs reagieren zu können. In Abwandlung von Beck kann man sagen, anstatt der gewohnten Normalbeziehungen haben wir es heute mit Bastel-, Drahtseil-, Wahl- und Bruchbeziehungen (l.c., S.37,